Das Archiv und Chancen auf eine nichtbürgerliche Öffentlichkeit

Kai van Eikels


Kunst, die politisch sein will, richtet sich an eine Kunstöffentlichkeit in der Hoffnung, diese werde Zugang zu einer politischen Öffentlichkeit verschaffen. Da die Öffentlichkeiten, die der Kunstbetrieb zu vermitteln vermag, jedoch exklusiv (bildungs-)bürgerlich bestimmt sind – welche Chancen gibt es für eine nichtbürgerliche, proletarische Öffentlichkeit? Zwar verfügen wir über wachsende Archive mit Dokumentarmaterial zum Leben von Arbeiter*innen und auch zu ihren politischen Kämpfen. Doch wie mit diesen Archiven so umgehen, dass die Differenz zum Bürgerlichen nicht im künstlerischen Umgang selbst verschwindet?

 

 


 

Was heißt Öffentlichkeit?

 

Wenn wir von „Öffentlichkeit“ – und zumal „der Öffentlichkeit“, mit bestimmtem Artikel – sprechen, bezieht sich das zumeist, bewusst oder unbewusst, auf ein bürgerliches Konzept von politischer Öffentlichkeit, das im 18. Jahrhundert entstand und damals mit dem Bestreben nach Emanzipation verknüpft war.

 

Diese politische Öffentlichkeit ist ein Raum, in dem Menschen, die keine Regierungsmacht innehaben und also nicht direkt an regierungspolitischen Entscheidungen beteiligt sind, dennoch ‚über Politik‘ diskutieren können. Die Auseinandersetzung zwischen ihren Urteilen tritt an die Stelle des Verhandelns und Treffens von Entscheidungen.

 

‚Politik‘ meint dabei potenziell alles, was die Veränderung des Zusammenlebens betrifft und was daher potenziell alle Mitglieder des Gemeinwesens angeht (wie groß oder klein das Gemeinwesen ist, lässt sich in diesen Diskussionen relativ flexibel kalibrieren – je nach Horizont, auf den sich die Diskutierenden verständigen, kann es sich um die lokale Community des Wohnviertels handeln, um die Stadt, das Land, Europa oder die ganze Welt). Und es zählt zum Anspruch dieser bürgerlichen Öffentlichkeit, dass jeder Mensch an solchen Erörterungen politischer Angelegenheiten abseits des Regierens zu partizipieren vermag. Öffentlichkeit ist konzipiert als etwas Universales, das an jedem Ort zwischen beliebigen Anwesenden entstehen kann und nicht von Institutionen abhängt.

 

Michael Warner beschreibt in Publics and Counterpublics (hier ein zusammenfassender Artikel von ihm) Öffentlichkeit als performativen Effekt einer Weise zu sprechen (im weiten Sinne des Wortes „sprechen“, der den expressiven Gebrauch des Körpers und den zeigenden Umgang mit Dingen ebenso einschließt wie das Reden). ‚Öffentlich‘ meint einen bestimmten Modus der Adressierung und des Reagierens auf das Adressiertwerden: Ich wende mich an anwesende oder abwesende andere nicht durch den Bezug auf unsere Bekanntschaft, d.h. ich adressiere sie nicht als Familienmitglieder, als Freund*innen, Arbeitskolleg*innen, Vorgesetzte oder Untergebene o.ä., sondern als Fremde, mir quasi per definitionem Unbekannte, von denen ich nicht mehr weiß, als dass sie Menschen sind und also mir Gleiche. Bürgerliche Öffentlichkeit unterstellt Gleichheit. Sie unterstellt sie – es wird nicht etwa geprüft, ob und in welcher Hinsicht wir uns ähnlich sind, um die Gleichheit aus Ähnlichkeiten abzuleiten, sondern die Art und Weise, in der ich mich an die anderen wende, setzt diese Gleichheit voraus, und die Art und Weise, wie sie darauf reagieren, bewahrheitet diese Voraussetzung.

 

Öffentliches Diskutieren über Politik trägt mittels dieser Unterstellung und ihrer kommunikativen Bewahrheitung dazu bei, (mehr) Gleichheit in die sozialen Verhältnisse einzuziehen. Die Gewohnheit, mit irgendwelchen anderen Leuten öffentlich politische Angelegenheiten zu erörtern, gewöhnt mich zunehmend daran, meine Mitmenschen als Gleiche wahrzunehmen und zu behandeln, in Absehung von den offensichtlichen Unterschieden an bspw. Bildung, Vermögen, sozialem Prestige, Macht und Einfluss, Schönheit usw., die zwischen uns bestehen. Eine solche allgemeine Eingewöhnung in ein Kommunizieren-von-Gleichen unterstützt somit einen Demokratisierungsprozess: Obwohl die Gleichheit zunächst eine gewissermaßen imaginäre ist – und die Öffentlichkeit überhaupt primär als imaginierter Raum existiert –, zeitigt sie reale Effekte, die den gesellschaftlichen Umgang nachhaltig verändern und schließlich auch Veränderungen der politischen Institutionen anstoßen können.

 

 

Vier Probleme der bürgerlichen Öffentlichkeit

 

So die Idee hinter der bürgerlichen Öffentlichkeit. In der Praxis wurden allerdings schon sehr früh eine Reihe von Problemen deutlich.

 

Erstens stand der Anspruch, dass jede*r an öffentlichen Debatten teilnehmen kann, in krasser Diskrepanz zur jeweiligen historischen und nationalen oder lokalen Realität: Im 18. Jahrhundert stammten diejenigen Stimmen, die in öffentlichen Debatten über Politik Gehör fanden, überwiegend von wohlhabenden gebildeten weißen Männern. Das lag zum einen daran, dass der etablierte Modus öffentlichen Sprechens auf einer Rhetorik der „self-abstraction“ (Warner) beruhte. Man formulierte seine Statements nicht in der persönlichen Perspektive des Betroffenseins, der eigenen Umstände und Interessen, sondern im Namen einer Allgemeinheit („Die Leute hier wollen…“, „Das Land braucht jetzt…“, „Das Schicksal der Menschheit hängt davon ab, dass…“).

 

Wer diese Rhetorik nicht beherrschte, wer das Allgemeingültige durch Subjektivität, zu persönliche Emotionalität oder überhaupt merkliche Körperlichkeit kompromittierte, fand kaum Anerkennung. Dieses Kriterium ist bis heute in Kraft: Ein gewisses Maß an Betroffenheit verleiht einem öffentlichen Statement eventuell die Wucht des ‚Authentischen‘, aber das Authentische wirkt nur verstärkend, wo die Aussage selbst vom singulären Leben hinreichend abstrahiert, so dass viele Hörer*innen sich in die Lage der/des Betroffenen versetzen können – und möchten.

 

 

Zweitens behauptete die bürgerliche Öffentlichkeit, unabhängig von Institutionen zu sein, hing jedoch maßgeblich von konkreten Orten und auch zunehmend von Medien ab. Die erste Welle bürgerlicher Debattenkultur entwickelte sich in Cafés und auf städtischen Plätzen. Man musste in diesen Cafés verkehren können, freie Zeit und Energie dafür übrig haben, was viele Arbeiter*innen ausschloss und ebenso Frauen, die an den Haushalt gebunden waren. Und man brauchte eine körperliche Kondition, um sich dort effektiv zu engagieren, bspw. eine sonore Stimme, die durch lebhafte Unterhaltungen hindurch oder draußen auf dem Platz vernehmbar war, ohne dass sie überanstrengt ("hysterisch") klang, was auf Männer eher zutraf.

 

Sodann wurden Zeitungen und Zeitschriften als erstes modernes Massenmedium immer wichtiger, und zu den Zugangsbeschränkungen kamen die Fähigkeit, nach bestimmten Kriterien gut zu schreiben, und die sozialen Kontakte zu den Machern der Blätter. Das Unterschätzen der materiellen Bedingungen für die Produktion und Distribution von Beiträgen gehört zum idealistischen Wesen der bürgerlichen Öffentlichkeit.

 

 

Drittens förderte die Ersetzung der Entscheidung durch das Urteil zwar ein kritisches Denken (der Begriff „kritisch“ als Bezeichnung für die generelle Einstellung, Disposition, Gestimmtheit eines Weltverhältnisses, wie er heute zum gebräuchlichen Vokabular zählt, entwickelte sich im Wechselspiel zwischen dieser bürgerlichen Öffentlichkeit und einer sich politisierenden Kunstkritik: die Feuilletons des 19. Jahrhunderts enthalten oft Kritik an den Herrschern und politischen Verhältnissen verpackt in eine Aufführungs- oder Buchrezension, um die Zensur zu umgehen). Die weitgehende Konsequenzlosigkeit des Äußerns von Urteilen gewöhnte die kritischen Diskurse jedoch auch in eine Unverantwortlichkeit ein. Hetze und hate speech in Sozialen Netzwerken machen heute deutlich, wie sehr eine Kommunikation, deren Beteiligte nicht davon ausgehen, dass irgendwas von dem, was sie äußern, wirklich realitätsverändernde Folgen haben wird, auf einen Habitus, ein Set von Verhaltenskonventionen angewiesen ist, um nicht aus dem Ruder zu laufen.

 

Der bürgerliche Habitus, der sich dem öffentlichen Reden im 18. Jahrhundert einprägt und bis ins späte 20. Jahrhundert bestimmend bleibt, sieht vor, dass selbst sehr polemische Auseinandersetzungen dennoch den Respekt vor dem politischen Gegner aufrechterhalten und niemals mit der Androhung körperlicher Gewalt oder dem Versuch der Einschüchterung einhergehen. Verankert ist diese Konvention in der Würde des Agierenden: Ich polemisiere taktvoll und beschränke meine Aggressivität aufs Verbale, weil alles andere unsouverän rüberkäme, mich in einem schlechten Licht dastehen ließe (nicht etwa aus Nettigkeit oder Rücksicht). Das heißt, es braucht ein bürgerliches Ehrgefühl und Streben nach Souveränität im Auftreten, um diesen Anstand zu wahren. Wo das fehlt, kann die Aggression ungehindert eskalieren.

 

Indem sie zerstreutes Urteilen bringt statt kollektiver Entscheidungsprozesse (und so niemals auch nur die Frage aufkommt, was zerstreutes Entscheiden hieße), geht die bürgerliche Öffentlichkeit über eine Kompensation für Beteiligung an Handlungsmacht nicht hinaus. Während sie Menschen dazu bewegt, sich über politische Angelegenheiten zu informieren, eigene Haltungen auszubilden und diese mitzuteilen, gegen Einwände zu verteidigen und dabei argumentativ zu überprüfen, organisiert sie zugleich ein Sichabfinden damit, dass die gesetzgebende Gewalt bei Regierenden liegt und die exekutive Gewalt bei staatlichen Institutionen, denen die Bürger*innen unterworfen sind.

 

Universal und kosmopolitisch gedacht, kohabitiert die bürgerliche Öffentlichkeit doch – in unklarer Manier, aber sehr nachhaltig – mit dem souveränen (National‑)Staat. Ihre ‚beste Zeit‘ scheint sie in Phasen zu haben, in denen die staatlichen Machthaber*innen sie nicht nur dulden, sondern sogar protegieren, so dass der Eindruck eines kritisch-harmonischen Verhältnisses zwischen ziviler Debatte und Staat entsteht. Und man hat den Eindruck, dass dies auch der Wunsch ist, der das Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit beseelt.

 

Versuchen Regierungen, Öffentlichkeit abzuschaffen, indem sie die Medienkonzerne kontrollieren oder selber übernehmen, zeigt sich die Schwäche des Vertrauens auf eine harmonisch-kritische Kohabitation mit dem Staat vonseiten der Bürger*innen. Zwar mag es als Reaktion auf Repressionen kurzzeitig zu einem zivilpolitischen Aufbäumen kommen, zu einer Woge von Demonstrationen, Petitionen usw. Sofern die Regierenden hart bleiben und sich davon nicht beeindrucken lassen, geraten die politischen Bewegungen innerhalb der Bevölkerung aber bald in eine Sackgasse

 

Zivile Öffentlichkeit ist immerhin regenerationsfähig. Eine Schwächung des staatlichen Apparats reicht oft, um sie wieder zu aktivieren. Sie bleibt indes angewiesen auf eine freiwillige oder unfreiwillige Schwäche staatlicher Regulierung, und wir sehen weltweit, dass es auch in Zeiten des Internets immer noch machbar ist, solche öffentliche Kommunikation effektiv zu zensieren oder zu manipulieren.

 

Viertens vollzieht eben der Universalismus des Öffentlichkeits-Konzeptes, wie es sich im 18. Jahrhundert herausbildet, eine für das europäische Bürgertum typische Geste, die bereits im 19. Jahrhundert von einem progressiven Impuls des Aufbruchs in eine reaktionäre Verleugnung umkippt: Die bürgerlichen Akteur*innen verstehen sich nicht als Mitglieder einer Klasse. Sie sehen dort, wo sie einander in öffentlichen Debatten begegnen, nur Menschen, Abgeordnete der Menschheit.

 

Das hat seinen historischen Grund darin, dass die Forderung nach freien öffentlichen Debatten über Politik sich primär an die Aristokratie richtet. Die herrschende Klasse erscheint als Klasse, wohingegen die Leute aus dem Bürgertum quasi mit der Stimme von „Anteillosen“ sprechen, als „part des sans parts“ im Sinne von Jacques Rancière: Sie treten nicht als eine andere Klasse auf, die nicht hinreichend an der politischen Macht beteiligt ist (nicht als Konkurrent der Aristokratie, während die Aristokratie sich in einer Konkurrenz mit dem absoluten Monarchen befindet), sondern als der von der etablierten Ordnung ausgeschlossene Teil, der das wahre Ganze repräsentiert. In ihrem Bestreben danach, an die Stelle der Aristokratie aufzurücken, sind die Bürger blind für die eigenen Privilegien gegenüber dem Proletariat.

 

Das Ausblenden der Klassenspezifik macht zunächst eine Stärke des Öffentlichkeitskonzeptes aus, weil im Miteinander der Debattierenden ohne Regierungsmacht so bereits die kommende Gesellschaft sich abzeichnet, in der Regierungsmacht auf alle gleichermaßen verteilt sein wird. Als die kommende Gesellschaft dann tatsächlich kommt, stellt sich indes heraus, dass auch hier ‚alle‘ keineswegs alle heißt. In den bürgerlichen Republiken rutscht die Arbeiterklasse in die Position der Anteillosen.

 

Gibt es eine proletarische Öffentlichkeit?

 

Und in gewisser Weise verbleibt sie in dieser Anteillosigkeit. Denn die bolschewistischen Revolutionen, die in sozialistische und kommunistische Staaten münden, ändern zwar die materiellen Besitz- und Produktionsverhältnisse (und tun damit das, wovor die Angehörigen des Bürgertums stets zurückschrecken). Aber eine entsprechende Veränderung der Anerkennungsverhältnisse vollzieht sich durchs gesamte 20. Jahrhundert hindurch eigentlich niemals.

 

Als zuerst in der Sowjetunion und dann in sämtlichen anderen Warschauer Pakt-Staaten die Systeme kollabieren, geht aus der Mischung von Verachtung und Mitleid, das westliches Bürgertum für „die Menschen im Osten“ empfindet, ein ‚Mitfreuen‘ hervor, in dem die Verachtung heimlich triumphiert: Die haben es natürlich nicht geschafft, das wusste man die ganze Zeit, dass das nicht klappen kann. Nun bestünde ihre Emanzipation aus westlicher Sicht darin, sich aus den schlechten Gewohnheiten eines Lebens in Unfreiheit zu guten bürgerlichen Subjekten zu entwickeln: ökonomisch (sich am Arbeitsmarkt oder mit einem eigenen Unternehmen behaupten), sozial (die Kommunikationen an den liberal-bürgerlichen Tugenden ausrichten und sich gesellschaftlich integrieren) und politisch (mit dem Parlamentarismus konforme Ansichten, Bedürfnisse, Äußerungsformen entwickeln).

 

In Bezug auf die Auswertung der ‚realsozialistischen‘ Epoche – der kritischen Evaluation jenes gesellschaftspolitischen Experimentes, das unter den schlechten Bedingungen von Diktatur und Staatsterror nichtsdestoweniger stattfand – ist die Lage misslich: Es sind zwar staatliche Archive vorhanden, und zudem gibt es reichlich Material, das in neue Archive wandert. Aber man verfügt über keine Alternativen zur bürgerlichen Erinnerungskultur, zu den bürgerlichen Diskursen im Umgang mit der Vergangenheit, den bürgerlichen Sortierungen, Aufbewahrungs- und Ausstellungsformaten, den Rezensionen und Reflexionsbeiträgen in bürgerlichen Zeitungen usw.

 

Ein marxistisches Geschichtsverständnis auf der Linie ehemaliger Einheitsparteien darf keine Geltung mehr beanspruchen. Und die neuen Marxismen, die in den global vernetzten Grassroots-Bewegungen seit den 1990ern reüssieren (wie der Postoperaismus von Hardt/Negri, Lazzarato, Virno), sind westlich geprägt. Ein Liberalismus ist ihnen als Grundhaltung selbstverständlich. Sie schreiben die Selbstuniversalisierung des Bürgertums von einer linken Position aus fort. Klarstes Anzeichen dafür ist die Häufigkeit des Wortes „radical“ in den Texten und Statements. Benjamin zitiert eine treffende Einsicht von Brecht: „Der Kommunismus ist nicht radikal. Radikal ist der Kapitalismus.“ In der politischen Radikalität teilt sich ein bürgerliches Begehren mit, ein Wunsch nach dem objektiven Pendant zu exzessiver Subjektivität.

 

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1972, in der Hochphase eines westlich-intellektuellen Marxismus, der auch die Kunst beeinflusst, nennen Oskar Negt und Alexander Kluge in ihrem Buch Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit eine Reihe von Gründen, warum es schwierig ist, innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft eine proletarische Öffentlichkeit zu etablieren. Die Allianz der bürgerlichen Öffentlichkeit mit dem Staat und mit der kapitalistischen Wirtschaft, die er hegt, erlaubt es einer proletarischen Öffentlichkeit nur, sich als „Gegenöffentlichkeit“ zu konstituieren – so eine Grundaussage von Negt und Kluge. Ein proletarisches Politisches kommt allenfalls in den Krisenmomenten des Systems aus bürgerlicher Gesellschaft, Staat und Wirtschaft zum Vorschein.

 

Die bürgerliche Öffentlichkeit transportiert den Universalitätsanspruch des Bürgertums (‚wir sind keine Klasse‘), ohne dass es je zu einem Realitätstest kommt, ob sie tatsächlich in der Lage ist, eine Gesellschaft zusammenzuhalten, oder ob den gegebenen Zusammenhalt nicht vielmehr materiell die Warenökonomie mit ihren Bequemlichkeiten und Abhängigkeiten besorgt. Die bürgerliche Öffentlichkeit nimmt als scheinbar beliebig erweiterbares Versprechen für sich ein. Und tatsächlich erneuert dieses Versprechen hin und wieder seine Plausibilität: Wer die Stimme zum Protest erhebt, um Zugang einzuklagen, darf früher oder später auf Integration rechnen. Die bürgerliche Öffentlichkeit nimmt im Laufe von zweieinhalb Jahrhunderten u.a. Frauen, People of Color, LGBT-Personen, people with disabilities auf.

 

Proletarische Öffentlichkeit erscheint dagegen als partikular. Und das ist quasi korrekt, argumentieren Negt und Kluge, denn das Proletariat kann in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft keinen „Zusammenhang“ darstellen. Es verbindet und integriert nicht. Es ist selbst blockiert: In einer bürgerlichen Gesellschaft Proletarier*in sein heißt, keinen Zugang zu Anerkennung zu haben, die Prozesse sozialer Liaison tragen würden. Marx und Engels erklären im Kommunistischen Manifest gerade die Abwesenheit von sozialer Anerkennung zum Keim proletarischer Solidarität, wenn sie die Arbeiter*innen als diejenigen anrufen, die nichts zu verlieren haben als ihre Ketten. Das tritt die Flucht nach vorn an. Diese Verbindung-aus-Losigkeit greift jedoch nur in der Dynamik eines revolutionären Ereignisses, sie fügt sich durch die Erschütterung der sozialen Architektur. Unter relativ stabilen Verhältnissen kommt sie nicht dazu, sich wirkungsvoll zu manifestieren.

 

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Ein Problem besteht darin, dass ‚der Proletarier‘ nur in Differenz zum Bürgerlichen, dem er nicht entspricht, als ganze Person und Gruppe von Personen existiert. Die im Blog-Beitrag zu den Archiven des Arbeitskampfs erwähnte SWR-Talkshow von 1988, in der die Moderatorin den Krupp-Stahlarbeiter und Streikredner Helmut Laakmann mit den Sätzen „Sind Sie ein Demagoge?“ und „Ich kann’s eigentlich kaum glauben, das soll Ihre erste Rede gewesen sein“ begrüßt, führt sehr anschaulich vor, wie diese Figur entsteht: als Reflex des Staunens und Entsetzens einer bildungsbürgerlichen Elite darüber, dass da jemand, der nicht zur Elite gehört („Ich hab nicht studiert“, sagt Laakmann), gut und rhetorisch gewandt öffentlich „vor 10.000 Menschen“ zu reden versteht. Das wiederholt im späten 20. Jahrhundert exakt die Situation des Plebejeraufstands auf dem Apennin, die Rancière zur Urszene seiner politischen Theorie der mésentente, des Unvernehmens macht: Die Offiziere der römischen Armee sind fassungslos darüber, dass aus dem Mund eines plebejischen Soldaten wohlgeordnete, verständliche Worte ertönen und nicht das Gebrüll eines Tieres. In dieser Fassungslosigkeit gerät ihre Weltordnung aus den Fugen.

 

Die Lebenserfahrung der Menschen, die ökonomisch und sozial zur Arbeiterklasse rechnen, ist hingegen eine tief gespaltene. Zum einen sind sie allgemein (Staats-)Bürger*innen, und Etliches in ihrer Welt- und Selbstwahrnehmung überschneidet sich mit der kleinbürgerlichen (weshalb das Kleinbürgertum sich umso panischer von ihnen abgrenzt). Zum anderen sind sie im Besonderen proletarisch und umso engagierter solidarisch miteinander, je stärker die Umstände sie in diesem Besonderen, Anders-als-Bürgerlichen zusammendrängen. Formen proletarischer Kollektivierung wie die Gewerkschaften versuchen, ein Ganz-und-gar-Proletarisches zu konstruieren, ohne diese Spaltung doch je auflösen zu können.

 

Die Spaltung durchzieht auch starke positive Affekte. Arbeiterstolz kann politisch motivierend wirken, wo er in der Lohnabhängigkeit ein Moment der Unabhängigkeit behauptet. Er ist aber zu einem Teil auch kleinbürgerlicher Stolz auf die geleistete Arbeit ungeachtet der Ausbeutungsverhältnisse, in denen sie vollzogen wurde. Peggy Buth verarbeitet Videomaterial, das einen Arbeiter zeigt, wie er in der Kneipe sitzend darauf beharrt, die Arbeiter hätten die Fabriken gebaut, nicht die Unternehmer, denen sie gehören. Das enthält beide Momente: den Keim zum Aufstand und das stille Einvernehmen mit dem Status quo dank der Wohltat des Wissens, dass man selber etwas Großes hervorgebracht hat.

 

 

 

Betrieb und Familie: Zwei Orte proletarischer Öffentlichkeit

 

Bürgerliche Öffentlichkeit verortet sich in einem gesellschaftlichen Zwischen, das Menschen überall eröffnen können und das nur das Offene selbst zu brauchen scheint. Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Das Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit verhält sich bis zu einem gewissen Grad gegenüber den staatlichen Institutionen (selbst darin indes zu idealistisch), aber es ignoriert die beiden wichtigsten Bereiche proletarischen Lebens: den Betrieb und die Familie.

 

 

Der Betrieb

 

Die bürgerliche Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts erneuert die Unterscheidung zwischen dem oikos, der privaten Sphäre des Haushalts, und der agora, der öffentliche Sphäre für politische Angelegenheiten, wie sie die antike demokratische Polis strukturierte. Sie beerbt – sehr vermittelt, aber mit einem nachhaltigen Einfluss auf die ‚politische Kultur‘ – auch die griechische Überzeugung, Freiheit, wie demokratisches Streiten und Entscheiden sie braucht, könne nur in der Freiheit-von-der-Notwendigkeit-zu-arbeiten beruhen. Zwar verhängt das Bürgertum eine Arbeitsethik über die ganze Welt (nicht nur die Menschen, auch die Natur muss fleißig und produktiv sein). Doch es gilt für ausgemacht, dass die Sphäre des Politischen sich in der Freizeit erstreckt: räumlich „zwischen den Hütten“, wie es bei Rousseau im Discours sur l’inégalité heißt, und zeitlich zwischen den Arbeitstagen. Institutionalisierung sorgt dann dafür, dass dieser Zeit-Raum von professionellen Politiker*innen bespielt wird, die die Gesellschaft eigens abstellt und von ihrer erlernten beruflichen Arbeit befreit, damit sie sich ganz dem Handeln im Sinne der Allgemeinheit widmen können.

 

Bürgerliche Politik geht – trotz oder gerade wegen ihrer Professionalisierbarkeit – nicht mit Arbeit zusammen. Sie blendet nicht nur vorsätzlich die Arbeitsverhältnisse aus, wenn sie von Demokratie spricht, mit dem höchst sonderbaren Resultat, dass wir in einer sog. demokratischen Gesellschaft dennoch Hierarchie und Ungleichbehandlung beim Zusammenarbeiten hinnehmen sollen und dies überwiegend auch tun. Die spezifischen Erfahrungen der arbeitsteiligen Tätigkeiten ergeben kein politiktaugliches Können und Wissen. Zwar engagiert der professionelle Politikbetrieb Expert*innen, um einen Teil der Verantwortung auszulagern, aber die treten gerade nicht als Menschen auf, die durch die Erfahrungen ihrer jeweiligen Arbeitstätigkeit etwas einbringen, was für das Zusammenleben aller relevant ist, sondern sie liefern Informationen, Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen als bestelltes Produkt, das seine Herkunft aus bestimmten Arbeitsprozessen umso effektiver unsichtbar macht, je mehr es als Expertise überzeugt.

 

Die postoperaistischen Denker weisen in den 1990er Jahren darauf hin, dass postfordistisch organisierte Arbeit – im Unterschied zur fordistischen Industrieproduktion – generelle Fähigkeiten erfordert und ausbildet, wie sie auch in der Politik zum Einsatz kommen. Die flexible Teamarbeit des Projektkapitalismus verlangt von den Arbeitenden rhetorische skills, um andere durch Überzeugen und Überreden für eine Sache (bspw. eine Strategie oder einen Lösungsansatz) zu gewinnen. Man greift dafür nicht allein auf Fachwissen zurück, sondern auf topoi koinoi, auf sprachliche Gemeinplätze, die Evidenzen erzeugen, und wer in diesem Teamwork einen Vorschlag macht, steht in hohem Maße persönlich dafür ein ähnlich jemandem, der eine politische Meinung vertritt.

 

Die Postoperaisten adaptieren Marx’ Begriff des „General Intellect“, um diese Verallgemeinerung eines Wissens zu bezeichnen, das die Sphären des Ökonomischen und des Politischen überblendet. Das Büro wird im Postfordismus quasi zu einer Gesellschaft im Kleinen, in der es die Bedingungen für Kooperation (oder co-competition, denn Zusammenarbeit verschränkt sich eng mit Konkurrenz) auszuhandeln gilt wie die des Zusammenlebens in der Politik. Das hat den problematischen Effekt, dass die postfordistische Arbeit viel von denjenigen Fähigkeiten und Motivationen aufsaugt, die sonst dem Politischen zugutekamen – das politische Leben gleichsam abschöpft und ökonomisiert. Wer täglich in der Firma für seine ‚Überzeugungen‘ kämpfen und dabei unter den Kolleg*innen tragfähige Mehrheiten organisieren muss, behält kaum genug Schwung übrig, sich in politischen Debatten zu engagieren, sondern wünscht sich für den Feierabend Harmonie und Ballerspiele. Andererseits kann jedoch die Arbeitswelt auch zum Trainingslager für kollektive Selbstorganisation werden. Bewegungen wie Occupy, die Indignados usw. haben demonstriert, dass Leute, die in ihren New Economy-Jobs gelernt haben, wie man horizontal Projekte auf die Beine stellt, ziemlich gut politische Initiativen unabhängig von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und anderen großen Institutionen managen können.

 

All das betrifft indes Jobs, in denen fast ausschließlich Angehörige des Bildungsbürgertums tätig sind. Auch die Anforderungen an Industriefacharbeiter*innen steigen zwar, aber es geht hier eben nicht um Fachwissen, sondern um eine Ausdifferenzierung von soft skills, der reichhaltige Spezialkenntnisse sogar eher im Weg stehen. Es bleibt eine große Menge von Menschen, die nicht auf dem aktuellen Sate of the Art bürgerlicher Kompetenz sozialisiert sind: Wie sollen die Zugang bekommen zu einem zivilen Politischen, das so hochgradig bürgerlich normiert ist? Wie sollen sie partizipieren an einer politischen Macht des Zivilen?

 

Das übersetzt sich u.a. in die Frage: Wie verhält die Wirklichkeit von Arbeitsteilung sich zu Öffentlichkeit? Und es wäre wichtig, diese Frage von beiden Termen aus anzugehen. Da es nicht danach aussieht, als ob Arbeitsteilung bald verschwindet (auch wenn Dynamik und Beweggründe ihrer Differenzierungen sich wandeln), lautet die Forderung auch auf ein anderes Konzept von Öffentlichkeit, das der arbeitsteiligen Welt nicht derart heterogen ist, wie der bürgerliche Idealismus es wollte. Wie denken wir Öffentlichkeit mit den Entfremdungen von Arbeitsteilung zusammen anstatt gegen sie, sie kompensierend oder verleugnend?

 

Das sollte ebenso eine Kunst provozieren, die ihre Domäne des Ästhetischen seit Schiller als Reich der Freiheit von Arbeitsteilung und deren Entfremdungen begreift. Kunst, die etwas tun will für die Etablierung einer proletarischen Öffentlichkeit, wird dem Partikularen der proletarischen Eingelassenheit in die ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu einem ‚Ganzheitlichen‘ hin entfliehen dürfen. Wo Ästhetik so ein Ganzheitliches dem Politischen verspricht, muss künstlerische und kunstbetriebliche Praxis mit der bürgerlichen Tradition des Ästhetischen brechen.

 

 

Die Familie

 

Ein zweiter Bereich, mit dem es für die proletarische Öffentlichkeit eine andere Bewandtnis hat als für die bürgerliche, ist die Familie. Plakativ könnte man sagen, dass Familie in einer proletarischen Perspektive gerade keine Privatsphäre meint, keinen Schutzraum gegen das Draußen, in dem sich einige der Dynamiken da draußen nur unabsichtlich und unbewusst, symptomhaft ‚mikrokosmisch‘ reproduzieren (so wie die bürgerliche Familie zur Szene einer quasi-theatralen Darstellung der ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse wird, weil sie sich in Abwehr gegen deren Totalität organisiert und durchweg negativ auf sie bezogen bleibt – das vermittelt sich als Einsicht bei Freud).

 

Proletarisches Familienleben ist weitaus direkter, offenkundiger und offenflankiger politisiert, insofern das Überleben des Familienverbands in Konsequenzen jener Kämpfe verflochten ist, die im Schatten scheinbarer oder tatsächlicher gesellschaftlicher Kompromisse unentwegt weiter stattfinden. Dieses Familienleben ist nicht „prekär“ im Sinne von ungesichert (das Prekäre ist eine späte, schon halb postbürgerliche Korrespondenz zur proletarischen Not). In gewisser Weise ist die working class family fester und sicherer, wenn auch nicht unbedingt in einem netten, für alle Mitglieder vorteilhaften Sinne (das Bürgerlich-Liberale mag aus den zwingenden Verbindlichkeiten proletarischer Familienbande denjenigen, die darunter leiden, sehr idyllisch und attraktiv erscheinen). Als ein defaultmäßig materiell unter Stress stehender Sorge- und Kooperationszusammenhang kann die proletarische Familie sich die Selbstbefragungen, Selbstzweifel, Selbstexperimente, die bürgerliche Familienintimität mit einer existenziellen Spannung erfüllen, nicht leisten. Sie gleicht einer unfreiwillig gebildeten Partei.

 

Bürgerlicher Republikanismus weiß mit dieser Politizität der Familie nichts anzufangen. Im bürgerlichen Entwicklungsschema verweist sie höchstens zurück auf eine segmentäre Gesellschaft, in der Familien-Clans ohne übergeordnete souveräne Instanz Angelegenheiten von allgemeinerem Belang in Deals miteinander ausmachten. Wo solche Clans innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft fortbestehen, steht ihre medienöffentliche Wahrnehmung meist im Kontext organisierter Kriminalität. Man erblickt in ihnen ein immer noch nicht ausgerottetes Unkraut im Garten des Rechtsstaates.

 

Nationalstaatliche Souveränität unterhält einen tacit pact mit der bürgerlichen Familie, in ihr Inneres nicht zu sehr hineinzuregieren. Dieser Pakt muss entlang einiger Reizthemen ab und zu in Details nachverhandelt werden, wobei rechte politische Kräfte notorisch versuchen, die Familie als Bastion des Privaten gegen Gesetze und Inspektion durch Vertreter*innen kommunaler Behörden abzuschirmen (Weigerung, Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe als solche anzuerkennen; Leugnung der Tatsache, dass sexueller Missbrauch von Kindern überwiegend innerhalb der Familie geschieht…). Grundsätzlich erschüttert hat den Pakt jedoch bislang nichts, und die zähe Verteidigung des Häuslichen als apolitischer, nichtöffentlicher Ort lässt proletarische Familiendynamik umso suspekter aussehen: ‚Die‘ schützen einander – und vor allem ihre Kinder – nicht hinreichend vor der Welt ‚draußen‘!

 

Eine Aufgabe für Kunst im Umgang mit den Archiven, die proletarisches Leben dokumentieren, besteht darin, die Familie ebenso wie den Betrieb als Öffentlichkeiten oder Sphären mit Öffentlichkeitsaspekten zu entdecken, zu zeigen, erfahrbar werden zu lassen und einem politischen Denken zugänglich zu machen. Ob Kunst das vermag, wenn sie selbst im Rahmen eines exklusiv bildungsbürgerlichen Kunstbetriebs operiert, halte ich für fraglich. Mir fällt als Positivbeispiel zuerst eine TV-Serie ein: Shameless (das Original ist britisch und lief ab 2004 auf Channel 4, seit 2011 gibt es die international bekanntere amerikanische Version). Dazu vielleicht ein paar Filme von Ken Loach und Hirokazu Kore-eda. Was noch?