Die dunklen Seiten der Geschichtsschreibung

Wenn Menschen das Archiv als Chance sehen, um inneren Frieden und Gerechtigkeit zu finden.

Paul Wulf (*Mai 1921;†Juli 1999)ist einer der Menschen, der dies versucht hat. Jahrelang kämpfte er darum angehört zu werden, etliche Male wurde er als Mensch und damit einhergehend seine Lebensgeschichte, nicht ernst genommen. 

Wulf war noch ein Kind als er, aufgrund von Geldmangel, in einem Kinderheim untergebracht wurde. 1932 stand ihm ein Wechsel der Einrichtung bevor, eine „Anstalt für Geisteskranke“, in der er das erste Mal mit rassenhygienischen Maßnahmen konfrontiert wurde. Dort erhielt er die Diagnose „angeborenen Schwachsinn ersten Grades“. 1937 stellten seine Eltern den Antrag auf Entlassung, welcher nur unter der Bedingung der Zwangssterilisation erfolgte. Jahre später brachte Paul Wulf schließlich den Mut auf sich zu wehren und gegen den Rechtsstaat anzutreten. Dabei erkennt er, dass der Staat alles daran setzt den Kreis der Sterilisationsgeschädigten auszuschließen. 1950 klagte Wulf erstmals vor Gericht auf Schadensersatz, welcher mit folgender Begründung abgelehnt wurde: „Erfahrungsgemäß behaupten die Betroffenen, durch die Unfruchtbarmachung körperliche Schäden, die zur Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsbehinderung geführt haben sollen, erlitten zu haben. Die Erfahrung des Wiederaufnahmegerichts lehrt, dass diese körperlichen Schäden durchweg simuliert werden.“ Auch bei dem Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente, welche Wulf als mindeste Entschädigung ansah, wurde ihm Simulation vorgeworfen. Geprägt wird Wulf in den Verfahren durch die Diagnose einer geistigen Behinderung, wodurch die Schäden durch die Zwangssterilisation, in den Hintergrund gerückt werden. Nachdem Wulf die Zustimmung für ein weiteres psychisches Gutachten erhielt, keimte erneut Hoffnung auf, welche jedoch durch den zuständigen Arzt zunichte gemacht wurde. Dieser stützt sich auf die Tatsache, dass Wulf trotz der Zwangssterilisation im Berufsleben tätig gewesen war. Erst durch ein weiteres Gutachten erhielt er 1979, dank eines Mediziners seines Vertrauens, die Erwerbsunfähigkeitsrente. Dieser bescheinigte ihm eine schwere Neurose, die ihren Ursprung in der Zwangssterilisation hatte. Paul Wulf kämpfte auch hiernach weiter, um seine und die Geschichte tausender Menschen zu verbreiten. Während seiner Arbeit im Archiv suchte er fortan weiter nach Schreibtischtätern und Handlangern, nach Verantwortlichen. Während seiner Recherchen machte er die Entdeckung, dass etliche davon noch Jahre später im Amt tätig waren. Durch seine antifaschistischen Ausstellungen erlangte Wulf an Bedeutung. Im Jahre 1991 wurde ihm schließlich das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Die Geschichte Paul Wulfs ist kein Einzelfall. Immer wieder kommt es in der Geschichtsschreibung zu Lücken und regelmäßig werden Tatsachen und Fakten verschleiert. Erst durch ambitionierte Menschen, die sich hinter die Kulissen wagen und in Archiven nach der ganzen Wahrheit suchen, erfahren wir, was wirklich geschehen ist. Auch die Künstlerin Silke Wagner, hat sich im Rahmen der Skulpturprojekte Münster 07 mit den verborgenen Geschichten des Archives auseinandergesetzt. Im Rahmen dieses Projektes ist eine 3,4 Meter hohe Skulptur von Paul Wulf entstanden, eine Art Litfasssäule. Auf dieser Skulptur brachte sie Themen unter, die sie während ihrer Arbeit im Umweltzentrum-Archiv und heutigem interkulturellen Zentrum Don Quijote fand. Hierbei widmete sie sich unter anderem auch der Lebensgeschichte des Paul Wulf. Um das Material zugänglicher zu machen und inhaltlich zu ergänzen, wurde eine Website erstellt, die es nebenbei ermöglicht, das Projekt anschauen zu können, auch ohne vor Ort zu sein. Mit ihrer Arbeit schafft Silke Wagner eine kritische Auseinandersetzungen mit grundlegenden, gesellschaftlichen Thematiken und versucht ebenfalls ein Verständnis für die gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen und gleichzeitig ein Gegengewicht zu dem Informationsfluss der Medien herzustellen. Während ihrer Arbeit im Archiv wird ihr stetig bewusst, dass der Zugang zu solchen Materialien sichtlich erschwert ist. Sie setzt sich mit Büchern, Flugblättern und Zeitschriften auseinander, die über den normalen Buchhandel nicht vertrieben werden. Durch Wagners Arbeit mit dem Umweltzentrum-Archiv, erhoffte sich dieses seinen Bekanntheitsgrad zu erhöhen und ein größeres Ansehen zu erlangen. Heute, Jahre später, stellt sich jedoch heraus, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist. 

Hierbei stellt sich die Frage, warum eine Institution wie das Archiv, welches so viel wertvolles zur Aufklärung und Erweiterung des Wissenstandes beitragen kann, nicht an größerem Ansehen erlangt hat.

„Man kann nicht nicht kommunizieren“. Die erste Grundregel der menschlichen Kommunikation, die Paul Watzlawick aufstellte findet auch hier Bedeutung. Jede Kommunikation, auch ohne Worte, ist Verhalten. Und jedes Verhalten sendet eine Botschaft aus. Der Künstler Raffael Rheinsberg hat im Rahmen der Ausstellung „Das Gedächtnis der Kunst“ eine Bodeninstallation angefertigt, die aus Bruchstücken von Straßenschildern bestand, aus denen sich wiederum einzelne Worte rekonstruieren ließen wie zum Beispiel >Prenzl<, woraus sich Prenzlauer ergibt. Mit seinem Werk möchte er die Menschen dazu auffordern, sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen, die mit der Umbenennung von Straßen der ehemaligen DDR einhergehen, wenn man sie durch neutrale Straßennamen ersetzt. Welche Botschaft sendet das aktive Umbenennen der Straßen aus? Welche Bedeutung hat dieser Vorgang für das sich wieder erinnern? 

Wir haben zumeist Künstlern zu verdanken, dass wir über Thematiken aufgeklärt werden und gleichzeitig dazu aufgefordert werden, uns kritisch mit den Vorgängen des Staates auseinanderzusetzen. Jedes mal stoßen wir dabei auf den Aspekt der mutwilligen Verschleierung. Wichtig ist dabei sich die Frage zu stellen, warum der Staat Interesse daran hat, wichtige und zumeist ausschlaggebende Fakten zu verschleiern. Der Regisseur Peter Mullan hat mit dem Film „Die unbarmherzigen Schwestern“ einen möglichen Denkanstoß auf die Frage gegeben. In seinem Film zeigt er die Zustände in den ehemaligen katholischen Heimen, in denen Kinder verhöhnt, gedemütigt und misshandelt werden. Nach Veröffentlichung des Filmes, wandten sich Betroffene an die Öffentlichkeit, so auch Gisela Nuthern. Auf sie alle wartete ein Kampf gegen die mächtige Institution Kirche, die jegliche Anschuldigungen von sich wies. Heute gibt es nur noch wenige Unterlagen über die wahren Ereignisse, die sich hinter den Mauern der Erziehungsheime abgespielt haben. Gisela Nuthern hat ebenfalls vergebens nach Aufzeichnungen über ihr Leben in dem Dortmunder Heim gesucht, sämtliche Akten wurden vernichtet oder sind nach Angaben unauffindbar. Auch die direkte Konfrontation mit Verantwortlichen, hat bisher nichts ergeben. Mullan wurde seitens der Kirche beschuldigt mit seinem Film ein falsches Bild darzustellen und nicht die Wahrheit zu zeigen. In einem offenen Brief schrieb er: „Ich bin kein Antikatholik, doch die Kirche muss um Verzeihung bitten für all das, was passiert ist.“   

Genau das ist es worum es allen Betroffenen im Grunde geht. Um Verzeihung gebeten und angehört zu werden. Das was in der Vergangenheit geschehen ist, kann zwar nicht rückgängig gemacht werden, sie kann jedoch dazu beitragen aus ihr zu lernen und sämtliche Fehler in der Zukunft zu vermeiden. Die aktuellen Ereignisse um George Floyd zeigen, dass es notwendig ist, sich mit der Geschichtsschreibung intensiv auseinanderzusetzen, hinter die Kulissen zu schauen und auch an Orten, wie das Archiv, nach Material zu suchen um ein genaues Bild und somit die komplette Wahrheit zu erfahren. 

 

[Laura Cecere]

Quellenverzeichnis:

UWZ-Archiv: „Paul Wulf - ein Antifaschist und Freidenker“

Skulpturprojekte Münster 07: „Silke Wagner“; Katalog S.248-255.

Sigrid Weigel: „Die Kunst des Gedächtnisses - das Gedächtnis der Kunst. Zwischen Archiv und Bilderatlas, zwischen Alphabetisierung und Spur“ aus „Trajekte - Eine Reihe des Zentrums für Literaturforschung Berlin“; Hrsg. von Sigrid Wiegel und Karlheinz Barck; München 2005.

NZZ:„Die unbarmherzigen Schwestern“; 21.03.2003; https://www.nzz.ch/article8NRI0-1.216245/PLACEHOLDER-article8NRI0-1.216245; überprüft am: 09.06.2020.

Peter Wensierski; Der Spiegel: „Die unbarmherzigen Schwestern; 19.05.2003; https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-27163301.html; überprüft am 09.06.2020.