Projekt 2077 – Das Reenactment als experimenteller Umgang mit dem Skulptur Projekte Archiv Münster

 

 

Spätestens seit den 1970er Jahren liegt der Fokus des kulturpolitischen Auftrags von Museen nicht mehr allein beim Sammeln, Bewahren und Erforschen von Objekten. Vielmehr soll den Objekten und das in ihnen manifestierte Wissen möglichst vielen Mitgliedern unserer Gesellschaft vermittelt werden. Die „Neue Kulturpolitik“ definiert sich als Grundpfeiler für eine Sicherung des Rechts aller Bürger auf Kultur – wenngleich jedoch keine verpflichtenden Auflagen für die kulturellen Einrichtungen abgeleitet wurden.

 

Der „Kulturstaat“ Deutschland, der sich dazu verpflichtete, seinen Bürgern ein Kulturangebot zu ermöglichen, führte auch dazu, dass viele Institutionen in öffentlicher Hand sind und die Museen sich in einer Abhängigkeit von Außenerwerbern wiederfinden.

 

Museen, so wie wir sie heute kennen, sind zu einem Phänomen unserer dynamisch expandierenden westlichen Industriegesellschaft geworden. Unsere modernen Gesellschaften sind vom Schwinden der Tradition und dem Verlust von Traditionsbewusstsein geprägt – doch dies schafft eben auch neue Chancen und Dimensionen. Die Institutionen müssen über ihre Kernaufgaben des Sammelns, Bewahrens und Forschens hinaus ihr Profil schärfen und neue Vermittlungsangebote mit mehr Diversitäten entwickeln, um den neuen Bedürfnissen der Besucher gerecht zu werden.

 

Alle Objekte, die in einem Museum oder einem Museumsarchiv versammelt sind, stammen von anderen Orten, haben vielleicht dadurch schon ihre ursprüngliche Funktion verloren – in den so buchstäblich entrückten und von ihrer ursprünglichen Form und Funktion losgelösten Objekten entsteht ein Anlass und Ansatzpunkt für neue, künstlerisch geschaffene Kontexte.

 

Museen sind Orte, an denen Wissen produziert und zur Anschauung gebracht werden kann. Die Ausstellung ist dabei ein Instrument, mit dessen Beihilfe ein Bestand temporär erweitert werden kann, um das Wissen zu überdenken, zu differenzieren oder zu erweitern.

 

Die Ausstellung „The Public Matters“ präsentiert in Form des Reenactmens eine neue künstlerische Gestalt, die zeigt, wie mit Archivmaterial umgegangen werden kann. Mit Rückgriff auf die Archivalien des Skulptur Projekte Archivs entstand eine audiovisuelle Großinstallation inmitten des Museumsaltbaus des LWL Museums, die sich mit einer ambivalenten Zukunftsvision der Skulptur Projekte im Jahr 2077 auseinandersetzt.

 

Das Projekt entstand unter der institutionellen Rahmung des LWL Museums und war als Projekt zur Aktivierung des Skulptur Projekte Archivs ins Leben gerufen worden. Das Künstler*innen Kollektiv erhielt Zugriff auf den Kern des Archivs, der von circa 1600 Dokumenten gebildet wird. Dabei arbeiteten die Künstler*innen auf eine freie, individuelle Herangehensweise zu verschiedensten inhaltlichen Themen. Die Archivalien wurden so aus ihrer alten Funktion befreit und in einen neuen künstlerischen Kontext gesetzt.

 

Während der Entwicklung des Projekts entstanden innerhalb des Kollektivs einige Fragen, die sich auf die Realisierung der Ausstellung auswirkten und auch Einfluss auf das endgültige Werk nahmen. Neben der Frage nach den heutigen Machthierarchien zwischen Künstler*innen und der Institution Museum wurde sich auch mit der Zugänglichkeit und die Frage nach der Relevanz für die breite Öffentlichkeit beschäftigt. Das Projekt 2077, das sich zwar autonom entwickeln sollte und trotzdem durch die Rahmung der Institution unter gewissen Vorgaben konzipiert wurde, entstand auch durch eine gewisse kritische Haltung gegenüber alten Strukturen.

So wurde die Arbeit mit den Archivalien in Form des Reenactments dazu genutzt, um alte strukturelle Gegebenheiten zu hinterfragen und dies der Öffentlichkeit zur Debatte zu stellen. Dabei wurde auch die Funktion des Projekts 2077 als räumliche Installation hinterfragt – wer erhält Zugang? Welche Vorkenntnisse können von den Betrachter*innen erwartet werden und welche Muster in Bezug auf die Bedeutung der Ausstellungsobjekte und Wertigkeitsdiskurse sollen produziert werden? Das Künstler*innen Kollektiv entschloss sich dabei bewusst gegen eine zusätzliche öffentliche Online Präsenz, das Projekt 2077 funktioniert nur innerhalb der Architektur des Museumsaltbaus. So können die Betrachter*innen auch sinnlich die Ganzheitlichkeit des Werkes wahrnehmen. Sei es durch die Geräuschkulisse, die Wahrnehmung der Räumlichkeit oder der Kontrast gegenüber des Museumsaltbaus, der sich ganz offensichtlich schon allein durch die farbliche Konzipierung bildet.

 

Das Projekt 2077 zeigt auf, welches Potenzial in der experimentellen Nutzung von Archivmaterial liegt, um dieses in einen neuen künstlerischen Kontext zu überführen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Durch die Herausnahme der Archivalien aus dem Kontext des Archivs werden die Objekte von allen ursprünglichen Bezügen befreit und erhalten neue künstlerisch geschaffene Kontexte, die neue gesellschaftliche, politische und wissensvermittelnde Qualitäten herstellen. So entwickelt sich für das Archiv als Gralshüter oder kulturelles Gedächtnis vielleicht auch an eine neue Relevanz als Forum der Begegnung und des öffentlichen Schauens, Erlebens und Entdeckens.

 

[Malina Brinkmann]

 

 

©Kollektiv 2077, Ansicht der Großinstallation im Museumsaltbau

 

©Kollektiv 2077, Blick auf Installation

[Das Video Sichtbarkeit ist die Währung ist Teil der Ausstellung The Public Matters vom Kollektiv 2077, die bis zum 15. November 2020 im LWL Museum in Münster zu sehen ist. Siehe hierzu auch den Beitrag: Sichtbarkeit ist die Währung]