Imaginationen des Demokratischen

Demokratisierung des Archivs

 

In medias res –

also direkt ins Archiv

 

Wir stehen vor einem Aktenregal; grau, verstaubt, voll.

Angesammeltes, nebeneinander Ge-ordnetes, Ausge-wähltes.

 

Über das Archiv zu denken, zu schreiben gleicht dem Verharren am Archiv-Ort als (Re)präsentation des Machtdiskurses, welchen es selbst beschreibt. Der schlichte, gedachte Blick auf die archivierten Artefakte genügt, dass auch ohne die Annahme einer Selektion, selbige das Archiv ermöglicht, weil es von ihr abhängig ist. Nach Jacques Derrida lebt das Archiv, in dem es sich selbst zerstört. Ohne einen Vorgang der Selektion, des Kassierens verwächst sich Archiviertes in wucherndes Angesammeltes.

 

Also Auswahl neben Auswahl.

 

Was zwischen ihnen steht ist die Lücke. Wie umgehen mit der Lücke? Was ist das Aus-selektierte entgegen der Selektion; muss es nicht in der Negativität der Selektion vorhanden sein? Wie hat die Substanz des Kassierens die Möglichkeit selbst Selektion zu werden, gelesen, gehört, erzählt zu werden und selbsterzählt zu sein?

 

 ***

 

Die Arab Image Foundation (AIF) versammelt eigentlich keine Bilder einer als offiziell deklarierten Geschichte. 1997, in der libanesischen Hauptstadt Beirut, gründet sich eine von Künstler*innen initiierte gemeinnützige Stiftung, derer Aufgabe die Sammlung, Bewahrung und Analyse historischer Fotografien aus dem Nahen Osten, Nordafrika und der arabischen Diaspora ist. Mittlerweile befinden sich in der Sammlung ungefähr 500.000 Aufnahmen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. Die meisten Fotografien stammen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts und beschreiben ein Spektrum, von Studioaufnahme bis Familienfotos. Die Fokussierung auf Alltags- und Gebrauchsfotografien entkörpert die Bewegung der Foundation weg von dem Diskurs „der kolonialen Fotografie respektive der festschreibenden Matrix hegemonialer Bildpraktiken“[i].

 

Die Gegenerzählung der Foundation schafft im Fundament des bildlichen Archivgebäudes der Objektivität historischer Diskurse tiefe Risse. Risse, die zuvor vermeintlich als lückenloses Gesamtes beachtet wurden. Nun beachtete Lücken, in einer anderen Aufmerksamkeit sichtbar, sollen ent-lück-t sein und werden deshalb neu gefüllt. Die Fotografien setzen einer als gesetzt, ausgehandelten Geschichtsnarration subjektive Perspektive entgegen. Genau wie Andersons Imagined Communities, bildet sich eine „neue“, nicht-deklarierte Geschichte (einer Nation), die vorgestellt, begrenzt, souverän und Gemeinschaft ist. [ii] Die Unordnung kreiert eine Ordnung der Ordo, die wiederum uns nochmal vor ein graues, verstaubtes, (un)voll(ständig)es Aktenregal bringt. Aus den Rissen heraus wächst ein anderes Narrativ, welches wiederum geordnet und selektiert zu einem weiteren, souveränen Archivgebäude wird.

 

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Unter dem Titel „Archives that Matter“ mit dem Zutitel Sharing unshared Histories stellen sich Daniela Agostinho, Katrine Dirckinck-Holmfeld und Karen Louise Grova Søilen die Frage, wie ein Zugang zum Archiv möglich sein kann, wenn Archive, wie das der Arab Image Foundation über eine splitter-prismenartige Teilhabe nicht hinaus kommen. Die Lücken vor den Aktenregal werden mehr. Ein übergefülltes Angeordnetes (es ist schließlich gefüllt, aber nicht vollständig, aber trotzdem behauptet es einen vollständigen Diskurs). Es sind bereits die Lücken zwischen den Regalen. Nur noch die Schlagworte an den Regalwänden sind sichtbar. Ein rasches Vorübergehen. Die Lücken werden bewusster.


Also wieder heraus dem Archiv.

 

Wie innerhalb-außerhalb (also in bzw mit der gegebenen Struktur des Archivdiskurses) Zugang zu unerzählten Erzählungen erzählen lassen?

 

Agostinho, Dirckinck-Holmfeld und Søilen beobachten weiterhin, dass in digitalen Archiven die Möglichkeit einer Teilhabe gegeben sei. Sie bemerken darüber hinaus, dass die digitale Verweb-Flechtung ästhetisch Geformtes sein lässt.[iii] Somit im Netzzugang, Netzarchive oder Archivnetze. Für sie gelten die Lücken einmal mehr, für jene, die nicht in der Objektivität historischer Diskurse erscheinen. Jene, die selbst im unmöglichen Raum der Lücke sind (nach jedem Lückenausgleich folgt eine Lücke). Ihre Fragestellung aufnehmend: „How then to adequately reconstruct the lives of those who lived […]”[iv]. Der Versuch einer Möglichkeit in den gegebenen Strukturen des Archivs zu arbeiten und andere Strukturen, andere Erzählungen aufzufassen.


Dort wo das Archiv gegen das Schweigen, Stillschweigen arbeitet, bleibt die Frage, nach dem, was stumm bleibt. Michel Foucault bemerkt in seinen Aufsatz Das Leben der infamen Menschen (Original La vie des hommes infâmes), dass eben nur jene im historischen Diskurs auftauchen können, die in die Archive, d.h. in Berührung mit einer Form von Macht gekommen sind bzw. ihre eigene Position in das Feld der Macht zu setzen, vermochten.[v]

 

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Der Künstler Walid Raad unternimmt den Versuch mit dem Atlas Group Archive einer Gegenerzählung der Geschichte des Libanons. Innerhalb der politischen, so zu genannten faktualen Geschichtsschreibung werden in Libanon zwischen 1975 und 1991 Behauptungen politischen Einflusses als Autobombenanschläge verübt. Raads methodische Annäherung zu diesem Teil des Libanons erfährt er selbst in der Anordnung von Vorfindbaren in Nationalarchiven, Pressearchiven, Staatsarchiven und Archiven beteiligter Institutionen. Eine Rekonstruktion der über 3.600 Anschläge ist unmöglich. Ein Auffinden von Gegenerzählungen reell. Raad möchte die Splitter jeder einzelnen Bombe anhalten und achtsame Sequenzcollagen gestalten. Er nimmt die Archivbehälter, schüttet sie zusammen mit anderen abgedeckelten Erzählungen und fügt sie anders zusammen. So clustert er Erzähltes der Nachbarschaft, von Opfern, vom Zerstörten oder unabsichtlich Festgehaltenem (auditiv oder als Bewegtbild). Er hält somit Sequenzen archivisch fest, in denen Vorgefundenes unwillentlich und unbewusst an einem Machtdiskurs teilgenommen hat. Perspektive und Augenblicke werden erlebbarer, die für das einzelne Erleben des Ereignisses nicht fassbar sind. Im Übereinanderschichten der Perspektiven, des Erlebten, des anders Erlebten, verdichten sich die Lücken. Gegenerzählungen von sich nicht Geäußerten erscheinen möglich, werden hörbar, auch wenn nicht in das Zeichensystem der diskursiven Archive übertragen. Es sind die, die während der Explosion gelebt haben und nicht am Machtdiskurs teilhaben konnten, weil sie totgeschwiegen wurden.

 

Teilhabe – den Teil haben, den Teil genommen, den Teil genommen zu haben, also teilzunehmen.

Anzufordern.

Zu bekommen.

Nicht zu bekommen, denn es ist bereits eigener Teil? Aber innerhalb des Diskurses, einfordernd.

 

Nicht nur den Zugang zu dem Archivgebäude zu versichern. Dein Teil in dem Archivregal (wieder)finden zu können. Diesen Prozess verfolgen zu können.

 

Imaginäres und Faktualles verwischt. Die, die in der Ent-lück-ung der Clusterung auftreten, sind wirklich, weil erlebbar. Gleichzeitig relativiert dieser Prozess die souveräne Position objektiver, historischer Diskurse. Die Arbeit am Archiv liegt demnach im Archivwerden selbst und muss ein stetig sich wiederholender und einbeziehender Prozess sein. Das Netzarchiv-Archivnetz wächst zwar mit jedem neuen Knoten, der mit einem neuen Archivansatz entsteht, allerdings müssen die Knoten für einen Zugang wieder entknotet und angereichert werden, damit weitere undenkbare Netzstrukturen aus den Strukturen hervortreten bzw. hervortreten zu können. Der endliche Strang – endlich! – mit bis jetzt undenkbaren, trotz erlebbaren Formen neu flechten.

 

***

 

Ein ständig laufender Prozess. Und (Versuch) Kampf. Die Demokratisierung. St_ mme innerhalb (außerhalb) kultureller Institutionen, ohne einen Archont zu bedürfen. Nicht-diskursiv Anerkanntes dringt in Lücken ein, bleibt ein Fremdes, wird aber zum Bekannten, wird Teil.[vi] Dessen Ankommen hört auf – Ordnung der Ordo – die Lücken aber nie. Die schon Etablierten werden ersetzt und so wird es in perpetuum. Die Demokratisierung wird aber im Prozess, die -ierung betont die Handlung, das Werden, das Geschehen. Sie wird nicht im Establishment: nicht im festen -ment. Das Etablieren wird immer exklusiv, ausschließend, lückenhaft sein. Der Prozess ist offen, un-endlich, unerschöpft, demokratisch. Die kollektive (Re)präsentation des AIFs-Versuchs, der Fokus an neuen Formen der Infrastuktur seitens Agostinho, Dirckinck-Holmfeld und Søilen, Raads Projekt die Bauern neu zu verteilen, dehnen Archivgebäude aus, vermehren St_ mme, stellen das scheinbare Unmögliche in seiner Materialität dar, schaffen die deklarierten Konventionen (ab).

Das Politische im Prozess trifft das Ästhetische im Ereignis: Vom Erlebbaren, Sinnlichen hin zu einem über die künstlerischen Gegenstände reflektierenden Denken. [vii]

 

Hin zum Artefakt.

 

 

R2 

 

 



[i]Barrenecha, Heide: Alternatives Wissen im Archiv. Die Fotografien der AIF als divergente Positionen, https://wissenderkuenste.de/texte/ausgabe-1/alternatives-wissen-im-archiv/ (08.06.2020).

[ii] Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London, New York 2006, S. 6-7.

[iii]Vgl. Agostinho, Daniela, Dirckinck-Holmfeld, Katherine u. Søilen, Karen Louise Grova: »Archives That Matter: Introduction«, in: Nordisk Tidsskrift for Informationsvidenskab og Kulturformidling, 2 (2019), S. 1-18, hier: S. 4.

[iv] Ebd.

[v] Vgl. Foucault, Michel: »Das Leben der infamen Menschen«, in: Michel Foucault. Schriften in vier Bänden, Hg. v. Defert, Daniel u. Ewald, Francois. Frankfurt 2003, S. 313.

[vi] Vgl. Nancy, Jean-Luc: Der Eindringling. Berlin 2000, S. 6-8.

[vii]Vgl. Rancière, Jacques: Das ästhetische Unbewußte. Zürich-Berlin 2006, S. 9-11.

 

 

 

 

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 Raad als Mitglied der AIF

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die gesamte Arbeitsweise Raads erinnert mich vielleicht an die Gruppe Forensic Architecture (https://forensic-architecture.org/), allerdings relativiert; zwar erarbeiten sie ebenfalls zu Momentaufnahmen einer Katastrophe den Zugang, allerdings oszilliert die Methode zwischen einem ästhetisch gewordenem Objekt und einer politischen Praxis, die als Dokumentwerdung in eine juridische Sprache überführt werden soll.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Stumme Lücke Stimme

 

(...) wir konnten uns nicht entscheiden

 

 

 

 



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