SICHTBARKEIT IST DIE WÄHRUNG                                                       zum anarchischen Potenzial eines (P)Reenactments

ein Kommentar von Manischa Eichwalder

©Kollektiv 2077, Videostill: Sichtbarkeit ist die Währung

[Das Video Sichtbarkeit ist die Währung ist Teil der Ausstellung The Public Matters vom Kollektiv 2077, die bis zum 15. November 2020 im LWL Museum in Münster zu sehen ist. Siehe hierzu auch den Beitrag: Reenactment]

 

"So this is how the story began"

 

Wir sind im Jahr 2077. Zum Anlass des 100. Geburtstags der Skulptur Projekte Münster findet ein Interview statt. Eine schwarz gekleidete Interviewerin sitzt der Kuratorin der Ausstellung gegenüber. Sie trägt einen Satain-Anzug in kräftigem Rot. Neben ihr sitzt eine Kritikerin, die in einem goldenen Sari gekleidet ist. Mit ausdruckslosen Gesichtern führen die drei ein Gespräch, das man kaum als ein solches bezeichnen kann – jeder Gesprächsfaden bricht unterwegs ab und verheddert sich zu einem diffusen Knäuel, das sich als Einzelnes nur sehr lose mit den anderen assoziieren lässt. Ein Wirrwarr an persönlichen Anekdoten über Beziehungen und Referenzen, gespickt von Geschmacksurteilen und willkürlichen Behauptungen suggeriert uns etwas über die Jubiläumsausstellung zu erfahren. Es scheint ein großartiges Entenprojekt zu geben, das jedenfalls das Interesse der Kritikerin geweckt hat. "Etwas Authentisches und Überraschendes". "Etwas zum Lecken, zum Schmecken, zum Spüren", wie die Kuratorin zustimmt. Endlich gibt es eine Ausstellung in der keine Geschlechterunterschiede mehr gemacht werden und Rassismus ist kein Thema mehr ist. Das Projekt 2077 hat mit seinem internationalen Ansehen das Image der Stadt Münster positiv verändert, das "mit dem Klischee braunes Münster" nicht zu vereinbaren ist.

 

Während der direkte Informationsgehalt dieses Interviews reichlich dürftig ist erzählt es uns doch einiges über eine Gegenwart 2077, die sich als dystopische Zukunft aus aktuellen Ereignissen und Erzählungen der Vergangenheit entwerfen lässt. Ganz selbstverständlich werden die Farben der Deutschlandflagge – Schwarz, Rot, Gold – zu einem identitätsstiftenden Ereignis wie dem 100. Geburtstag der Skulptur Projekten Münster inszeniert. Das sehen wir nicht nur an der Kleidung, sondern auch an der Grafik des auf dem Tisch liegenden Programmhefts zum Projekt 2077. Die historische Bedeutung der Nationalfarben Deutschlands scheint in Zukunft unproblematisch für das Image einer internationalen und diskriminierungsfreien Ausstellung einstehen zu können.

 

Außerdem wird uns vermittelt, dass 2077 das Patriarchat überwunden ist. Jedoch beobachten wir, dass im Matriarchat die gleichen institutionalisierten Mechanismen der Machtreproduktion ausgespielt werden: Es wird ein elitärer Scheindiskurs über Kunst geführt, der sich in undurchsichtigen und beliebigen Verweissystemen entfaltet. Unter dem Deckmantel ihrer abstrakt idealisierten gesellschaftlichen Bedeutung dient Kunst den Professionals als Anlass der Selbstdarstellung. Kunst kleidet eine weitere Kulisse hierarchisch organisierter Räume aus, deren Diskurse antidemokratische Ein- und Ausschlüsse produzieren. (Siehe hierzu auch den Beitrag: Öffentlichkeiten für das Archiv)

 

Diese inszenierte Interviewsituation konfrontiert uns mit einer Zukunftsvision, in der die beteiligten Akteurinnen symptomatisch für eine institutionalisierte Debatte um Kunst stehen, die sich nur allzu leicht mit der aktuellen Gegenwart kurzschließen lässt. Zwar wird in dieser Debatte immer wieder kritisches Denken als essenzieller Bestandteil einer gegenwärtigen Gesellschaft deklariert – die junge Generation soll aufhören den Mythen aufzusitzen und "Geschichte aus dem Rückspiegel" zu schreiben – jedoch nehmen sich die beteiligten Akteurinnen aus der Verantwortung, denn das Interview leistet in erster Linie einen wesentlichen Beitrag zu genau dieser Mythenbildung.

 

Dieser Moment des Kurzschlusses zwischen Zukunftsvision und gegenwärtigen Realitätsverhältnissen wird interessanter Weise in der letzten Szene des Videos umso deutlicher, die uns ein direkten Zugang zur Gegenwart 2077 suggeriert: Nachdem das Interview offiziell beendet ist, also alle Beteiligten die öffentliche Arena der Selbstdarstellung verlassen haben, wird zwischen Tür und Angel erstmals die Rolle der Künstler*innen angesprochen: Die Kritikerin fragt ob es stimmt, dass die Künstler*innen weniger Geld bekommen als die Tourguides. Zum Glück hat die Kuratorin "mit diesen ganzen Geldgeschichten nichts mehr am Hut", hofft aber, dass das nicht der Fall ist. Naja, aber es ist doch schließlich eine große Chance für die Künstler*innen eine so große Plattform geboten zu bekommen auf der sie ihre Arbeit präsentieren können – ergänzt die Interviewerin während die Kuratorin die Szenerie verlässt.

 

Fast hätte sich in dieser inoffiziellen Szene endlich eine wirkliche Debatte entwickelt, doch auch dies scheint an dem fehlenden Interesse oder der fehlenden Betroffenheit der Beteiligten zu scheitern. Offenbar liegt auch die Behandlung von institutionskritischen Themen außerhalb ihrer Verantwortung. Außerdem scheint sich durch den Ausschluss von Künstler*innen aus dem Diskurs und die beiläufige Randnotiz zu ihren prekären Abhängigkeitsverhältnissen auch in Zukunft das kunsthistorische Erbe der mystifizierenden Vorstellung von Künstler*innen als außergesellschaftliche Subjekte fortzusetzen – 2077 neoliberal revisited.

 

Mittels der Strategie des Reenactments von etablierten Phänomenen und Realitätsverhältnissen des Kunstfeldes wird augenscheinlich eine Zukunft entworfen, die uns jedoch zu sehr eine aktuelle Gegenwart vor Augen führt um noch Fiktion zu sein. Durch die Vorstellung einer möglichen Zukunft über den Rückgriff auf Vergangenes wird ein Zugriff auf die Gegenwart eröffnet. Dabei hat die künstlerische Arbeit selbst die Funktion, die ihr seit den 1970er Jahren unter dem Stichwort Institutionskritik attestiert wird: sie kann zwar den Zugriff öffnen, aber zugreifen müssen wir anderen.